Blaue Berge, grüne Täler - Wandern in den nordböhmischen Sudeten

Die hessische "Junge-Mittlere Generation JMG" der "Sudetendeutschen Landsmannschaft" brauchte für ihre diesjährige Wanderreise nicht um Mitwanderer zu werben. Kaum hatten Helmut Seidel, Frank Dittrich und Hagen Novotny die Planungen abgeschlossen und das Reiseziel genannt, waren alle Plätze im Bus "ausverkauft". Kein Wunder, denn die Fahrten im "Uhrzeigersinn" um das Sudetenland bieten eine einmalige Gelegenheit, die unvergessene Heimat zu Fuß zu durchstreifen. Im vorigen Jahr wurde von Aussig aus gewandert, diesmal ging es von Nachod aus ins Riesengebirge, Braunauer Ländchen, Adlergebirge, Glatzer Bergland und in den Schönhengstgau.

Nachod, Normalpuls und Erinnerung an den 8. Mai 1945

Die Europastraße 67 führt über das ostböhmische Náchod an der Mettau, nahe der Grenze zu Polen. Das Schloß, hoch über dem Marktplatz, grüßte die hessischen Wanderer, in der Dekanatskirche St. Laurentius wurden sie am Sonntag zum gemeinsamen Gottesdienst erwartet. Die Gläubigen füllten die Kirche bis auf den letzten Platz, in Tschechisch und Deutsch wurde gepredigt. Der Erbacher Pfarrer Heinz Kußmann, ständiger Gast bei den JMG-Wanderreisen, trug aus dem Kolosserbrief vor. Den Sinn auf das Himmlische richten, heißt es dort. "Alle sind wir Kinder Gottes, Deutsche und Tschechen" schloß er.

Den Gottesdienstbesuchern fiel auf, dass das Ewige Licht im roten Glas ganz regelmäßig flackerte. "60 Mal pro Minute, der Normalpuls eines Erwachsenen" erläuterte der tschechische Pfarrer. Danach sah man Wanderer heimlich ihren Puls prüfen. "Ich habe 67" rief einer erschreckt "das dürfte noch im grünen Bereich liegen", war die Antwort!

Als Einziger der Wandergruppe war der heute 87jährige Theo Ehrenberger schon einmal in Nachod, am 8. Mai 1945. Als 18-jähriger Soldat der Wehrmacht, wollte er sich damals, mit seiner motorisierten Infanterie-Einheit aus Schlesien kommend, bis zu den Amerikanern durchschlagen. Am Marktplatz in Nachod war die Fahrt abrupt zu Ende. Bewaffnete tschechische Zivilisten hielten die Deutschen in Schach. "Wir mußten unsere Waffen und Ausrüstungen am Marktplatz auf einen Haufen werfen. Betrunkene Jugendliche machten sich einen Spaß daraus, damit "herumzuballern", es gab auch Tote" erinnert sich Ehrenberger. Bis dahin hatte er noch keinen sowjetischen Soldaten gesehen, das sollte sich bald ändern. Von den Tschechen den Sowjets übergeben, begann ein langer Leidensweg in die Kriegsgefangenschaft.

Auch schon viel früher gab es bei Nachod Krieg. Die Schlacht zwischen Preußen und Österreich am 27. Juni 1866 endete mit einem preußischen Sieg. Das Denkmal fanden die Wanderer nach langem Suchen.

Suche nach Rübezahl

Von der tschechischen Seite kommt man derzeit nur zu Fuß auf die Schneekoppe, da der alte Sessellift abgerissen wurde und bis 2014 durch eine Gondelbahn ersetzt werden soll. 250 Personen pro Stunde werden dann künftig auf 1600 m Höhe "gefördert". Die geübten Wanderer der Hessen machte sich von Klein Aupa auf den Weg, um über die Koppe das Schlesierhaus zu erreichen. Eine zweite Gruppe startete gleich von der polnischen Seite aus. Sie hatte leichteres Spiel, denn von Krummhübel zum Schlesierhaus führt ein Sessellift.

Glücklich wieder vereint und nachdem man neue Kräfte gesammelt hatte, wurde gleich das nächste Ziel ins Auge gefaßt, die mittelalterliche Stabholzkirche Wang aus Vang in Norwegen, heute genutzt von einer kleinen polnischen evangelisch-lutherischen Gemeinde. Das gefiel den Wanderern: sie wurden mit Glockengeläut empfangen und mit der Wang-Hymne, auf der Orgel intoniert, kam sogar festliche Stimmung auf. Die Holzbauweise der Wikingerschiffe war Vorbild: nur in Harz getränktes, norwegischen Kiefernholz war das Baumaterial, nicht ein einziger Eisennagel wurde als Verbindungselement gebraucht.

Über Königgrätz zum Schönhengstgau

Es stimmt: Königgrätz gehört zu den schönsten tschechischen Städten. Ein Rundgang durch die Stadt zeigt, dass das geflügelte Attribut "Salon der Republik" zu Recht besteht.

Die Gedanken des mitwandernden Pfarrer Heinz Kußmann aber gehen zum früheren königgrätzer Erzbischof Mons. Karel Otcenasek, den er verehrt. Bei der 700-Jahrfeier von Jicin, der Partnerstadt von Erbach im Odenwald, kam es zu einer unvergesslichen Begegnung. Priester wurde Otcenášek 1945, fünf Jahre später erhielt er geheim die Bischofsweihe. Kurz danach internierte man ihn - zusammen mit anderen Priestern und Ordensleuten - im Kloster Seelau. 1953 folgte seine Verurteilung in einem Schauprozess zu 13 Jahren Haft, die er ausgerechnet in Jicin verbringen musste. 1962 ließ man ihn frei . Er verstarb 2011 im Alter von 91 Jahren in Königgrätz.

"Ich wär ja so gern noch geblieben, aber der Wagen der rollt" lautet ein bekannter Liedtext. Bald kam Leitomischl, der Geburtsort Bedrich Smetanas in Sicht und als das Schönhengster Gaulied "Zwischen March und Adler breitet? sich ein reich begnadet Land, ?das den Wandrer, der's durchschreitet,? wie ein süßer Zauber bannt" angestimmt wurde wußten die Wanderer, jetzt haben wir dieses "begnadete Land", den Schönhengstgau, erreicht. Die erst Station Zwittau, ist inzwischen durch Oskar Schindler weltbekannt.

Rothmühl, der Heimatort der Mitreisenden Renate Brugger und Theo Ehrenberger genießt sicher nicht den Ruf weltbekannt zu sein, er ist aber wohl der bestdokumentierte Ort des Schönhengstgaues. Zu verdanken ist diese außerordentliche geschichtliche Leistung dem in Oestrich-Winkel lebenden Dr. Hans Jandl, der die Erinnerung an seinen Heimatort Rothmühl als sein Lebenswerk betrachtet. Der von Dr. Jandl gegründete Heimatkundeverein Rothmühl kann übrigens in diesem Jahr mit den "Rothmühler Heimattagen" sein 40-jähriges Bestehen feiern. Östrich-Winkel hat die Patenschaft über Rothmühl.

Zum Empfang der Wandergruppe erklang die im Jahr 1781 aus dem Material der ersten Glocke von 1541 neu gegossene Glocke der St. Anna Kirche. Der Pfarrer bediente sie persönlich, er selbst zog am Strick! Neben Rothmühl hat er noch zwei weitere Gemeinden zu betreuen. Am besten besucht wird die Messe am Sonntag in Büsau, dort finden sich 50 Gläubige ein, in Ober Heinzendorf nur 6 und in Rothmühl 25. Bei Renovierungen hat man am Pfarrhaus die Jahreszahl 1594 entdeckt und an der Sonnenuhr 1612. "Wir brauchten kürzlich nur die Ziffern erneuern, sonst geht sie noch" schmunzelte der Pfarrer. Auf einem Seitenaltar waren für die Besucher kühle Getränke vorbereitet - ein herzlicher Empfang der allen in guter Erinnerung bleiben wird.

Auch die familiären Wurzeln des Mitwanderers Frank Dittrich liegen in Rothmühl. Dittrichs Vater hat den Verlust des großen landwirtschaftlichen Anwesens bis heute nicht verwunden. Im imposanten Wohnhaus der Dittrich-Familie werden jetzt Fensterrahmen hergestellt. Frank durfte sogar einen Blick hinein werfen. "Die wertvolle Treppe zum Obergeschoß ist komplett erhalten geblieben", konnte er berichten.

Der Schlüssel für das Portal des Barockklosters auf dem Muttergottesberg in Grulich mußte erst einmal gesucht werden. Ruhig ist es dort geworden, seit die letzte Ordensschwester dem Kloster den Rücken kehrte. Eine Gedenkstätte erinnert an die unter den Kommunisten internierten Geistlichen.

Nach so viel Fahrstrecke mußte am nächsten Tag erst die kleine und die große Koppe des Adlergebirges erklettert und der Aufstieg zur Masaryk-Baude bewätigt werden, bevor es zu einem musikalischen Treffen in Rokitnitz kam. Schließlich waren die Hessen ja auf Wanderreise.

Die Gesangsgruppe "Die Adlergebirgler" ist in Rokitnitz zuhause. 16 heimatverbliebene Deutsche, aber auch einige Tschechen bilden die Gruppe, die sich dem deutschen Volkslied verschrieben hat. Der älteste Sänger ist 88 Jahre alt und 160 Lieder stehen im Programm, vorrangig in Mundart. Sie tragen die Tracht des Adlergebirges: grün/schwarz. Auch bei Veranstaltungen in Polen und Deutschland sind sie dabei. Allerdings: nicht bei allen Tschechen genießt die Gruppe Sympathie, es gäbe Gaststätten, die stellten ihre Säle nicht für Proben und Auftritte zur Verfügung. "Warum" fragten die Wanderer? "Blanker Neid" war die Antwort "sie sind neidisch, weil die vertriebenen Sudetendeutschen es "draußen" zu etwas gebracht hätten". Ihr Gesangstalent bewiesen "Die Adlergebirgler" mit einer eigenen Komposition "Du, du mein stilles Tal" und nach dem gemeinsam gesungenen "Wahre Freundschaft soll nicht wanken" wollte der Applaus kein Ende nehmen.

Rundfahrt im "Madonnenländchen"

Heute ließen die Wanderer ihre Schuhe im Rucksack. Per Bus ging es von Nachod aus in die nur einen "Katzensprung" entfernte schlesischen Grafschaft Glatz.

Das "Madonnenländchen", wie diese gesegnete Landschaft bei den Schlesiern liebevoll genannt wird. Die frisch heraus geputzten Kurorte Bad Landeck, Bad Kudowa, Bad Reinerz und Bad Altheide, weit über die Grenzen Schlesiens bekannt, luden freundlich zum Verweilen ein. Aber wer hätte den Besuch der Wallfahrtskirchen in Albendorf, das "Schlesische Jerusalem" und "Maria Schnee" im Glatzer Schneegebirge versäumen wollen? Schließlich stand auch noch die "Erstürmung" der ehemaligen Festung auf dem Schloßberg in Glatz auf dem Programm. Die hessischen Wanderer erledigten das professionell: sie erkundeten zuerst einen im Mittelalter unter der Stadt angelegten geheimen Fluchtstollen, durch den sie unerkannt die Festung erreichten. Zügig wurde danach der Berg bis zur Festung erklommen. Oben gab es eine unerwarte Belohnung: den Blick auf die wunderschöne Stadt Glatz, überragt von den Türmen der Pfarrkirche Mariä-Himmelfahrt, der Minoritenkirche St. Maria und dem prächtigen Rathaus.

Abschied in Braunau

Das "Braunauer Ländchen" hieß die letzte Wanderetappe. Was würde man beim Rundgang im Stift Braunau dem früheren Kloster der Benediktiner noch von der früheren Pracht erkennen? Gut erhalten, stellten die Wanderer fest, aber dass das Klostergebäude seit der Restitution 1989 weitgehend leer steht wirkt bedrückend.

Unter den Händen und Füßen von Wanderfreundin Miehle erwachte die mächtige Orgel der Klosterkirche des Hl. Adalbert zu neuem Leben. Die Organistin zog alle Register und bündelte die "Kraft" der 2000 Pfeifen zu einem "Nun danket alle Gott", ein Dank auch für den glücklichen Verlauf der Reise. Der Besuch der Friedhofskirche der Jungfrau Maria, älteste erhaltene Holzkirche Tschechiens, setzte schließlich der Schlußpunkt hinter die ereignisreichen Tage in der alten Heimat Böhmen und Schlesien. "Wo wandern wir nächstes Jahr hin?" wurde gefragt. Helmut Seidel wußte die Antwort: es geht nach Iglau.

Text: Norbert Quaiser; Fotos: Erika Quaiser
Im August 2013