SL Hessen

"Všechny nemci ven! - Alle Deutschen raus!"

Zeitzeugenberichte über die Vertreibung aus dem Sudetenland

Mit einer weiteren Autorenlesung ging die mehrwöchige Ausstellung "Tragische Erinnerungsorte" der tschechischen Bürgervereinigung Antikomplex Prag, veranstaltet vom Kulturhistorischen Verein der Schöfferstadt Gernsheim, der Ostdeutschen Heimatstube Gernsheim und der Kreisgruppe der Sudetendeutschen Landsmannschaft Groß-Gerau, zu Ende. Horst und Marlene Gömpel aus Nordhessen sprachen im Gernsheimer Museum vor 70 Teilnehmern über die Vertreibung der Sudetendeutschen.

Der Scherenschnitt auf dem Buchtitel zeigt eine lange Menschenkette. "Všechny nemci ven! - Alle Deutschen raus!", lautete der Befehl in der Nacht zum 31. Mai 1945 in der mährischen Stadt. Damit begann, was als "Brünner Todesmarsch" in die Geschichte eingegangen ist. Von rund 35 000 Menschen, die sich in Richtung Österreich in Bewegung setzten, überlebten nur etwa 25 000.

Kolbenschläge für die Erschöpften, verseuchtes Wasser, Ruhrerkrankungen, Misshandlungen reduzierten die Zahl der Vertriebenen. Wer nicht weiter konnte, wwurde erschossen und in den Straßengraben gestoßen. Es ist nicht nur der Bericht über diese "Säuberungsaktion" der Stadt Brünn (heute Brno), die Horst Gömpel zu der Aussage "Im Buch steht drin, wie man Menschen umbringen kann", veranlasste.

Gemeinsam mit seiner Ehefrau Marlene hat er das Buch ". . . angekommen!" geschrieben. Daraus las das Ehepaar in der Abschlussveranstaltung zur Sonderausstellung "Tragische Erinnerungsorte" im Museum. Die Tafeln zeigten auf, wie es zum Ende des Zusammenlebens von Tschechen, Deutschen und Juden auf tschechischem Gebiet kam, was die Vertreibung der deutschen Bevölkerung nach sich zog.

"Vertrieben aus dem Sudetenland, aufgenommen in Nordhessen, vereint in der Europäischen Union" lautet denn auch der Untertitel des Buches, zu dessen Vorstellung rund 70 Personen gekommen waren. Einlader waren neben dem Bund der Vertriebenen die Buchhandlung Bornhofen, das evangelisches Dekanat Ried, katholische Arbeitnehmerbewegung und katholische öffentliche Bücherei sowie Stadtbücherei. Mit virtuos vorgetragenen Werken von Nolck, Bach und Seitz unterstrich Carolin Grün auf der Violine Vortrag und Lesung.

Hans-Josef Becker blickte eingangs auf die verschiedenen Angebote während der Ausstellung zurück. Der Vertreter der Ostdeutschen Heimatstube und Mitglied der Leitungsgruppe des Kreisverbandes des Bundes der Vertriebenen (BdV) Groß-Gerau forderte dazu auf, aus dem Schicksal der Heimatvertriebenen zu lernen. Wenn es heute weltweit wieder Vertreibungen gebe, sei es die Pflicht der Deutschen, ihre Herzen für diese Menschen zu öffnen und sie aufzunehmen. Sie erführen ebensolches Leid wie die nach dem Krieg vertriebenen Deutschen.

Dass für die Sudetendeutschen mit der Kapitulation der Wehrmacht der Krieg nicht zu Ende gewesen sei, sagte Horst Gömpel. Was für die durch die Türken in die Wüste verwiesenen Armenier die Hungermärsche gewesen seien, "waren für die Sudetendeutschen die Todesmärsche". Neben Brünn sei Komotau (Chomutov) ein Beispiel dafür.

Marlene Gömpel las verschiedene Zeitzeugenberichte. In mehrjähriger Arbeit und Reisetätigkeit haben die Autoren über 100 Zeitzeugen aufgesucht und befragt, deren Berichte im Buch zusammengefasst sind. Das Buch stellt zudem die Vorgeschichte der nationalen Auseinandersetzungen im Herzen Europas dar, schildert die verschiedenen Phasen der Vertreibung der sudetendeutschen Bevölkerung aus ihren Heimatorten und ihren Neubeginn in Hessen.

Nachwirkungen des Geschehens halten nach Auffassung von Horst Gömpel bis heute an: 1986 durfte seine aus Reischdorf im Sudetenland stammende Frau erst dann in die Tschechoslowakei einreisen, nachdem sie schriftlich bekannt hatte, das Land nach dem Krieg freiwillig verlassen zu haben. Der 500-seitige Band gibt auch wieder, was in tschechischen Geschichtsbüchern über die Vertreibung zu lesen ist: "fast nichts", wie der Autor ausführte.

Dem wirke die tschechische Bürgervereinigung "Antikomplex" entgegen, deren Name Programm sei: "Wir haben eine gute Zusammenarbeit." Die Vereinigung ist auch Urheber der Ausstellung gewesen. Ihr ging die unvoreingenommene Erkundung der eigenen Geschichte durch 80 Schüler voraus. In diesem Zusammenhang fand Horst Gömpel anerkennende Worte für den früheren tschechischen Präsidenten Václav Havel. Mit seinem Satz "Nur Wahrheit macht frei" habe er sich bei den Sudetendeutschen Sympathien erworben.

Text: Hans-Josef Becker; Fotos: Helmut Brandl
Im Mai 2015